Nicolaus Copernicus lebte an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Er ist einer der großen Universalgelehrten Europas; in der Geschichte der Wissenschaften gilt er als der bedeutendste Astronom seit Ptolemäus. Männer wie Martin Luther (1483 – 1546), Philipp Melanchthon (1497-1560), Christoph Columbus (1446-1502), Theophrastus Paracelsus (1493-1541), Leonardo da Vinci (1452- 1519), Albrecht Dürer (1471-1528) waren seine Zeitgenossen.
Die Jugend des Nicolaus Copernicus fiel in eine Nachkriegszeit: der zweite Friede von Thorn (1466) hatte die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen Orden, den preußischen Städten und der polnischen Krone beendet. Damit waren jedoch die Spannungen der rivalisierenden politischen Kräfte in dieser Region nicht gänzlich behoben; immer wieder führten die verschiedenen Interessengegensätze zu ernsthaften Problemen, die es in der Folgezeit zu lösen galt. Dennoch herrschte trotz all dieser Wirren beim ermländischen Bürgertum ein starker Wille zum wirtschaftlichen Aufbau, der mit vielfältigen Erwartungen nach geistiger Erneuerung verknüpft war. Geistesgeschichtlich befand sich Deutschland damals in einer Entwicklungsphase, die durch eine Abkehr von der Autorität einer kirchlich gebundenen und überwiegend im Jenseits verhafteten Denkart gekennzeichnet war. Als Folge dieses Wandels entwickelte sich ein stärker auf das Diesseits bezogenes Denken und weckte damit Empfindungen für eine größere innere und äußere Unabhängigkeit des Menschen. Auch eine stärkere Hinwendung zu den Problemen der Mathematik und der Naturwissenschaften wurde hierdurch ausgelöst.
Vor diesem historischen und geisteswissenschaftlichen Hintergrund vollzog sich das Leben und Wirken des großen Astronomen. 1473 in Thorn geboren, verbrachte Nicolaus Copernicus die frühen Jahre seiner Kindheit in der Weichselstadt. Schon früh verlor der Knabe seinen Vater. Doch sein Oheim übernahm die Fürsorge für seine Erziehung. Nach grundlegenden humanistischen, mathematischen und astronomischen Studien an der Universität Krakau wurde der angehende Gelehrte auf Betreiben seines Onkels, des Bischofs Lukas Watzenrode, in das ermländische Domkapitel aufgenommen. Schon bald danach reiste der junge Domherr nach Italien, um im Auftrag seiner Kapitelbrüder in Bologna, Padua und Ferrara Kirchenrecht und Medizin zu studieren. Dazwischen hielt er sich auch in Rom auf. Von 1506 bis 1512 war er dann Sekretär seines bischöflichen Onkels in Heilsberg. Nach dessen Tod lebte Copernicus zumeist in Frauenburg. Als Kanzler des dortigen Domkapitels, als Statthalter von Mehlsack und Allenstein und zeitweilig auch als Bistumsverweser und Deputierter bei den preußischen Landtagen betätigte er sich als Verwaltungsfachmann und Diplomat und repräsentierte so das Domstift nach außen. In dieser Zeit beschäftigte er sich auch eingehend mit einer Münzreform. Aufgrund seiner humanistischen Bildung war Copernicus sehr stark im Gedankengut der Antike verwurzelt; seine Übersetzung der Briefe des griechischen Schriftstellers Simocattes geben hiervon Zeugnis. Schließlich war er auch als erfolgreicher Arzt unter seinen Zeitgenossen bekannt.
Seine ganze Liebe aber galt der Astronomie. Die in jener Zeit sehr drängende Frage nach einer genauen Bestimmung der Jahreslänge – der damals gebräuchliche auf Julius Caesar zurückgehende und nach diesem benannte Julianische Kalender wies erhebliche Fehler auf – mag für Copernicus ein wesentliches Motiv für seine astronomischen Studien gewesen sein. Schon in der Zeit zwischen 1506 und 1514 hat er in einer als ,,COMMENTARIOLUS“ bekannt gewordenen Schrift, die nur in wenigen handschriftlichen Exemplaren weitergegeben wurde, erste Annahmen von der zentralen Stellung der Sonne im Planetensystem zum Ausdruck gebracht und die sich hieraus ergebenden Folgerungen für die Jahreslänge und damit für den Kalender angesprochen. Die in diesem Frühwerk in Form von Axiomen wiedergegebenen Gedanken haben folgenden Wortlaut:
1) „Für alle Himmelskörper oder Sphären gibt es nicht nur einen Mittelpunkt.“
2) „Der Erdmittelpunkt ist nicht der Mittelpunkt der Welt, sondern nur der der Schwere und des Mondbahnkreises.“
3) „Alle Bahnkreise umgeben die Sonne, als stünde sie in aller Mitte, und daher liegt der Mittelpunkt der Welt in Sonnennähe.“
4) „Das Verhältnis der Entfernung Sonne – Erde zur Höhe des Fixsternhimmels ist kleiner als das vom Erdhalbmesser zur Sonnenentfernung, so daß diese gegenüber der Höhe des Fixsternhimmels unmerklich ist.“
5) „Alles, was an Bewegung am Fixsternhimmel sichtbar wird, ist nicht von sich aus so, sondern von der Erde aus gesehen. Die Erde also dreht sich mit den ihr anliegenden Elementen in täglicher Bewegung einmal ganz um ihre unveränderlichen Pole. Dabei bleibt der Fixsternhimmel unbeweglich als äußerster Himmel.“
6) „Alles, was uns bei der Sonne an Bewegungen sichtbar wird, entsteht nicht durch sie selbst, sondern durch die Erde und unseren Bahnkreis, mit dem wir uns um die Sonne drehen, wie jeder andere Planet. Und so wird die Erde von mehrfachen Bewegungen dahingetragen.“
7) „Was bei den Wandelsternen als Rückgang und Vorrücken erscheint, ist nicht von sich aus so, sondern von der Erde aus gesehen. Ihre Bewegung allein genügt also für so viele verschiedenartige Erscheinungen am Himmel. Mit diesen Voraussetzungen nun will ich kurz zu zeigen versuchen, wie gut die Gleichförmigkeit der Bewegungen gewahrt werden kann. Hier jedoch glaubte ich, der Kürze halber mathematische Beweise fortlassen zu sollen und behalte sie mir für ein größeres Werk vor…“
(Nach einer Übersetzung von F. Roßmann, zitiert aus Felix Schmeidler, Große Naturforscher, 1970, S. 210ff.)
Diesen ersten Entwurf für ein heliozentrisches Weltbild hat Copernicus in nur wenigen handschriftlichen Exemplaren seinen Freunden zugänglich gemacht. Dennoch erregte er damit die Aufmerksamkeit der damaligen Fachgelehrten und sicher auch das Interesse der katholischen Kirche. Denn nur so ist es zu erklären, daß man sich schon bald nach Bekanntwerden des Commentariolus von kirchlicher Seite mit der Bitte um Vorschläge für eine Kalenderreform an den Astronomen wandte. Doch Copernicus lehnte ab, wohl auch aus dem Grund, daß er zu jenem Zeitpunkt für seine im Commentariolus vertretenen Thesen noch keine hinreichenden mathematischen Beweise hatte. Noch rund 30 Jahre sollten vergehen, ehe sein ,,größeres Werk“ – das sogenannte Hauptwerk – unter dem Titel ,,NICOLAI COPERNICI THORUNENSIS DE REVOLUTIONIBUS ORBIUM CAELESTIUM LIBRI VI“ im Druck erschien.
In diesem Buch hat Copernicus die bereits im Commentariolus geäußerten Postulate vertieft, verfeinert, weiterentwickelt und insbesondere durch Beobachtungsdaten und mathematische Beweise erhärtet. Das 212 Blätter umfassende handschriftliche Manuskript ist uns im Original erhalten; es wird in der Bibliothek der Universität Krakau aufbewahrt. Nur sehr zögernd und erst auf Drängen seiner Freunde hat sich Copernicus kurz vor seinem Tod zur Drucklegung entschlossen. Nach den vorliegenden Zeugnissen ist ihm aber auch aus Kreisen des Vatikans bedeutet worden, sein Werk zu veröffentlichen: Im Jahre 1533 ließ sich Papst Clemens VII. über das heliozentrische Weltbild des Copernicus unterrichten und hat diese Information mit Anerkennung zur Kenntnis genommen; drei Jahre später hat Kardinal Nicolaus v. Schönberg den Gelehrten in einem sehr herzlich gehaltenen Schreiben zur Veröffentlichung seines Werks ermuntert. Dieses Interesse der Kurie mag der Anlaß dafür gewesen sein, weshalb Copernicus seinen schließlich 1543 erschienenen Erstdruck Papst Paul III. – dem Nachfolger von Clemens VII. – gewidmet hat.
Copernicus starb am 24. Mai 1543. In seiner Sterbestunde noch soll ihm das erste Druckexemplar in die Hände gelegt worden sein. Mit diesem epochalen Werk hat der große Gelehrte das in jener Zeit verbreitete und bis dahin nicht ernsthaft in Zweifel gezogene geozentrische Weltbild des Ptolemäus überwunden und mit seinen neuen Vorstellungen die natur- und geisteswissenschaftliche Entwicklung seiner Zeit sehr nachhaltig beeinflußt. Nach der Erkenntnis des Copernicus stand demnach nicht – wie bislang angenommen – die Erde im Mittelpunkt des Planetensystems, sondern die Sonne; außerdem erkannte er den Mond als Begleiter der Erde und überwand mit dieser Auffassung die Vorstellung, der Mond sei ein Planet wie die Venus oder der Jupiter. Freilich konnte ihm der Beweis für diese bahnbrechende Entdeckung bei den damals zur Verfügung stehenden primitiven Hilfsmitteln – ohne Fernrohr – nur unvollkommen gelingen; dennoch waren seine Beobachtungen ausreichend für eine grundlegende naturwissenschaftliche Aussage. Auf der Grundlage dieses von Copernicus neuentwickelten heliozentrischen Weltsystems konnten Astronomie und Physik weiterbauen. Die verbleibenden Unvollkommenheiten, die das copernicanische System noch aufwies, wurden in den folgenden zwei Jahrhunderten überwunden.
Während Johannes Kepler (1571-1630) die Gesetze des neuen Weltbildes mathematisch ausformulierte, gelang lsaak Newton (1643-1727) die Aufklärung der kausalen Zusammenhänge. Nach diesen theoretischen mathematisch-physikalischen Begründungen blieb es dann unserer Zeit vorbehalten, dieses heliozentrische Bild vom Makrokosmos mit den Mitteln der Weltraumfahrt auch experimentell zu bestätigen. Die große über den rein physikalischen Aspekt hinausgehende Bedeutung des copernicanischen Werks liegt darin, daß der Mensch sich nunmehr in die Betrachtung des naturwissenschaftlichen Gegenstands einbezieht, den Standort des Beobachters als wesentlich für die Gewinnung eines gesicherten Wissens erkennt und damit das sinnlich erfahrene und erlebte Empfinden über die Welt (,,Die Sonne geht auf“) mit seinem abstrahierenden Verstand zu überwinden versucht. Daneben hat Copernicus mit seinem Werk auch weitreichende geisteswissenschaftliche Wirkungen von erheblichem Ausmaß ausgelöst. Das Zögern um die Veröffentlichung seines Werks und die in der Vorrede an Papst Paul III. geäußerten Gedanken machen deutlich, daß sich Copernicus der Tragweite seiner umwälzenden Erkenntnis sehr wohl bewußt gewesen ist. Zunächst jedoch war der Wirkungsgrad seines Werks relativ gering. Erst 23 Jahre nach dem Erstdruck erschien in Basel eine zweite Auflage.
In Fachkreisen fand das Werk zwar lebhaftes Interesse, die Gelehrten sahen in dem Buch zunächst aber eher eine kühne Hypothese als eine gesicherte Wahrheit. Diese anfängliche Zurückhaltung mag darauf zurückzuführen gewesen sein, daß – wohl aus Sorge vor dem befürchteten Widerspruch – in einem von Copernicus nicht autorisierten Vorwort eine entsprechende, dem Willen des Verfassers zuwiderlaufende Interpretation gegeben wurde. Stärker als seine Theorien fanden die in seinem Werk veröffentlichten Beobachtungsdaten Beachtung. Die knapp 40 Jahre nach dem Ableben des Copernicus im Jahre 1582 unter Papst Gregor XIII. durchgeführte Kalenderreform griff auf diese Daten zurück. Zu Lebzeiten des Copernicus und in den Jahren danach war von Seiten der katholischen Kirche – im Gegensatz zu den Vertretern der Reformation – zunächst keine Ablehnung gegen die neue Lehre zu verspüren. Copernicus sah nämlich zwischen dem Weltbild des Ptolemäus und seinem heliozentrischen System keineswegs ein theologisches Problem. Nach seiner Vorstellung wurde der Offenbarungsgehalt der Bibel von diesem rein mathematischen Sachverhalt nicht berührt.
Diese tolerierende Haltung der Kirche änderte sich jedoch, als ein knappes Jahrhundert danach die Verfechter des neuen Weltbilds im Verlauf sich verschärfender Glaubenskämpfe auch in theologische Kompetenzen einzudringen versuchten und die Kirche ihre Lehrmeinung in Gefahr sah. Erst dann (1616) wurde die heliozentrische Lehre als bibelwidrig verurteilt; im Jahre 1822 wurde dieses Verbot wieder aufgehoben und sein Werk vom Index gestrichen. Inzwischen hatte sich jedoch das heliozentrische System des Copernicus weltweit durchgesetzt. Die Indizierung hatte die copernicanische Idee nicht aufzuhalten vermocht. Toleranz, Bescheidenheit und Demut sind dominierende Eigenschaften des Menschen Nicolaus Copernicus. In seiner einfachen Wesensart spiegelt sich nicht nur menschliche Größe wider; auch die Methodik seines Denkens kommt hierin zum Ausdruck. In ihr repräsentiert sich jenes naturwissenschaftliche Grundprinzip, wonach sich alle Abläufe in der Natur nach einfach strukturierten Gesetzmäßigkeiten vollziehen.
Copernicus hat ein Weltbild verändert und als dessen Wirkung die geistige Welt der folgenden Jahrhunderte in Bewegung gebracht. Insofern mag er als Revolutionär empfunden werden; freilich nicht in dem Sinne, daß er die Brücken zu den Erkenntnissen der Antike und des Mittelalters abgebrochen hätte. Im Gegenteil: Er beabsichtigte nicht Überkommenes zu verwerfen; er wollte harmonisieren, wo er Widersprüche im bestehenden System zu erkennen glaubte. Mit Respekt achtete er die geistige Leistung der antiken Denker, auch dort, wo sie irrten. Damit war er seiner Lebenshaltung nach ein Konservativer, dem sehr wohl bewußt war, daß die eigentliche Kraftquelle für seine schöpferische Leistung der geistige Besitz des antiken Wissens war und die Auseinandersetzung mit ihm. Copernicus hat Bewährtes bewahrt und Veränderungswürdiges verändert; er wollte nicht zerstören, er baute weiter. Letztlich hat er seine schöpferischen Gedanken aus der Tradition legitimiert. Insofern könnte er zu einem Leitbild gerade auch für unsere Zeit werden.
(Aufsatz des inzwischen verstorbenen ersten Schulleiters und „Vaters“ des Copernicus-Gymnasiums Kurt Brandes in der Festschrift zur Namensgebung der Schule 1980)